Das Miracle on IceDenkwürdige Momente der Eishockeygeschichte
Grenzenloser amerikanischer Jubel nach dem Wunder gegen die Sowjetunion. (Foto: dpa/picture alliance/AP Photo)1956, 1964, 1968, 1972, 1976 – mit Ausnahme von 1960 gewann die sowjetische Eishockeynationalmannschaft bei jeder Olympiade, an der sie teilnahm, die Goldmedaille. 1980 wollte die „Sbornaja“ ihren Siegeszug fortsetzen. Die Vorzeichen dafür standen gut, waren die Sowjets zusätzlich auch amtierender Weltmeister. Vier Jahre zuvor in Innsbruck spazierten sie mit fünf klaren Siegen in fünf Spielen zum Triumph. Vor allem in Zeiten des Kalten Krieges wollten die USA der UdSSR natürlich Paroli bieten, zumal die Spiele in Lake Placid vor heimischem Publikum stattfanden. Die Vorzeichen dafür wiederum waren nicht die besten…
Denn während der Konkurrent aus dem Osten siegreich aus dem letztjährigen WM-Turnier hervorgegangen war, landete man selbst nur auf einem mageren siebten Rang. Daher wurde Einiges unternommen, um die eigenen Chancen zu erhöhen und die amerikanische Nationalmannschaft in Medaillennähe zu bringen. Trainer wurde Herb Brooks, der in den 70er Jahren an der Bande mit dem Team der University of Minnesota drei College-Titel erringen konnte. Die Mannschaft selbst bestand fast ausschließlich aus College-Boys, die meisten davon, wie Brooks selbst, aus Minnesota.
Profis waren bei Olympischen Spielen noch nicht zugelassen. In der Sowjetunion umging man diese Regel - offiziell hatten alle Spieler den Amateurstatus. Nahezu die gesamte Truppe spielte bei ZSKA Moskau, dem Team, das im europäischen Klubeishockey die absolute Vormachtstellung innehatte. Klingende Namen wie Boris Michailow, Wjatscheslaw Fetissow oder Wladislaw Tretjak, der bis heute, nach Meinung vieler Experten, beste Torhüter der Geschichte, schmückten die Reihen des Hauptstadtklubs und der Nationalmannschaft. Die allermeisten Teammitglieder gingen keiner weiteren Erwerbstätigkeit nach, wodurch im Westen etwas abwertend von den russischen „Staatsamateuren“ gesprochen wurde.
Herb Brooks und seine junge Mannschaft absolvierten den kompletten Winter 1979/80 eine intensive, gezielte und äußerst akribische Vorbereitung, welche für ein College-Team seinesgleichen suchte. Man merkte, dass es den USA ernst war! In der Woche vor den Spielen kam es zum Härtetest, man absolvierte ein Vorbereitungsspiel gegen die Sowjetunion und fiel gewaltig auf die Nase – 3:10 hieß es am Ende aus Sicht der Amerikaner. Die Sowjets stellten sowohl die Machtverhältnisse als auch ihre Ansprüche für das anstehende Turnier klar zur Schau, für die Amerikaner hingegen schien eine Medaille in weiter Entfernung…
Als wäre die Rivalität der beiden Supermächte im Kalten Krieg nicht schon intensiv genug gewesen, so erfuhr sie Weihnachten 1979, also nicht einmal zwei Monate vor Beginn der Spiele, weitere Brisanz durch die sowjetische Intervention in Afghanistan. Diese wurde vom Westen äußerst kritisch gesehen, um nicht zu sagen: scharf verurteilt. Unter anderem im Zuge dessen dachte man bereits im Vorfeld der Winterspiele über einen Boykott der Sommerolympiade nach, die gut ein halbes Jahr später in Moskau stattfinden sollte, was letztendlich auch geschah. Wäre das amerikanische Vorhaben bereits vor den Spielen in Lake Placid publik geworden, wäre ein sowjetischer Boykott mehr als wahrscheinlich gewesen. Kleine Randnotiz: Als vier Jahre später die Sommerspiele in Los Angeles stattfanden, boykottierten die UdSSR und zahlreiche andere Ostblockstaaten als „Revanche“ das sportliche Großereignis auf amerikanischem Territorium.
Trotz aller Politisierung in diesen Zeiten – werden wir sportlich: Am 13. Februar 1980 fiel der Startschuss oder, besser gesagt, wurde das Feuer entzündet und die achten Olympischen Winterspiele, die bereits dritten in den USA und nach 1932 die zweiten in Lake Placid, begannen. Eishockey wurde schon einen Tag vorher gespielt. Die Sowjetunion ließ in ihrem Auftaktspiel in Gruppe A den Japanern nicht den Hauch einer Chance und gewann 16:0, die Gastgeber mühten sich in ihrer Gruppe B gegen Schweden zu einem 2:2.
Der Modus des olympischen Eishockeyturniers wurde im Vergleich zu den Vorherigen etwas verändert. Es wurde zunächst in zwei Vorrundengruppen á sechs Mannschaften gespielt, wobei sich jeweils die beiden Gruppenersten für die Finalrunde qualifizierten, die unter Mitnahme der direkten Vergleiche ebenfalls als Gruppe ausgetragen wurde. Teilnahmeberechtigt waren die acht Nationen der letztjährigen A-WM sowie die vier besten Mannschaften der B-WM. Da sowohl die DDR als damaliger Tabellenzweiter als auch der erste Nachrücker, die Schweiz als Fünfter, auf eine Teilnahme verzichteten, rückte Japan nach.
Die Sbornaja marschierte durch die Vorrunde mit fünf teils klaren Siegen und einem Torverhältnis von satten 51:11 Toren. Finnland belegte den Ehrenplatz. Die kanadische Mannschaft kam nach Niederlagen gegen die beiden Erstplatzierten nicht über einen enttäuschenden dritten Rang hinaus und verlor zudem später auch noch das Spiel um Platz fünf gegen die Tschechoslowakei mit 1:6. Für die UdSSR hingegen lief alles erwartungsgemäß und nach Plan.
Die USA standen nach dem Remis gegen die Tre Kronor bereits unter Zugzwang, musste man doch einen der ersten beiden Plätze erreichen, um um die erhoffte Medaille kämpfen zu können. Obwohl die Mannschaft fast ausschließlich aus universitären Talenten bestand, trug die intensive Vorbereitung durch Herb Brooks Früchte, denn die Mannschaft wusste vor allem im körperlichen Spiel zu überzeugen: Die weiteren vier Gruppenspiele konnten alle siegreich gestaltet werden, unter anderem gab es einen 4:2-Sieg gegen die Auswahl der Bundesrepublik, wodurch am Ende Rang zwei vor der starken Tschechoslowakei, die 1976 in Innsbruck noch Silber holte, heraussprang. Nur Schweden konnte sich aufgrund des besseren Torverhältnisses vor den Amis platzieren. Die eben angesprochene deutsche Auswahl konnte an den sensationellen Erfolg von vor vier Jahren, als die Truppe von Xaver Unsinn überraschend die Bronzemedaille holte, nicht anknüpfen. Bis auf einen 10:4-Sieg gegen Norwegen gingen alle Partien verloren; in der Endabrechnung bedeutete dies Platz fünf in der Gruppe.
Somit stand das Teilnehmerfeld der Finalrunde fest: Neben den beiden Protagonisten konnten sich die skandinavischen Vertreter aus Schweden und Finnland hierfür qualifizieren. Während die USA und die schwedische Mannschaft mit je einem Punkt in die Abschlussspiele gingen, hatte die UdSSR deren zwei und Finnland keinen auf dem Konto. Der erste Spieltag der Finalgruppe war also bereits entscheidend und er hielt das ersehnte, lang erwartete, mit höchster Brisanz versehene Duell der beiden Supermächte bereit – das junge amerikanische Team traf auf die übermächtige Sowjetunion. Es sollte sich eine Partie entwickeln, die keiner der Anwesenden und auch sonst kaum einer, der es mit der eiskalten Leidenschaft hält, jemals vergessen wird:
Die Vorzeichen standen klar gegen die Gastgeber, die Dominanz der Sbornaja war regelrecht erschütternd in diesen Jahren. Beide Mannschaften bereiteten sich unterschiedlich vor. Während der sowjetische Chefcoach Wiktor Tichonow seinen Stars eine Auszeit gönnte und sich der Überlegenheit seiner Mannen sicher auf Videostudium beschränkte, blieb Herb Brooks bei seinem knallharten Trainingskonzept, wohlwissend, dass seine junge Truppe nur durch starkes physisches Auftreten eine Chance haben würde. Aller Statistik zum Trotz waren die heimischen Cracks gewillt, die Sensation zu schaffen – und Eishockey wird ja bekanntlich nicht auf dem Papier gespielt.
Der Beginn der Partie verlief jedoch erwartungsgemäß, Wladimir Krutow brachte die Sowjetunion nach neun Minuten in Führung. Die US-Boys hatten aber die richtige Antwort parat und glichen in Person von Buzz Schneider aus. Auch wenn das Ergebnis es nicht zum Ausdruck brachte, die UdSSR war vor allem spielerisch im ersten Abschnitt hochüberlegen – zur Pause zeigte die Torschussstatistik 18:8 zu ihren Gunsten. Bevor es aber soweit war, schlug die Sbornaja aus dieser Überlegenheit Kapital: Zwei Minuten vor der ersten Sirene war es Sergei Makarow, der den Titelverteidiger erneut in Front brachte. Dem heimischen Goalie Jim Craig war es bis hierhin zu verdanken, dass die USA mit nur einem Tor im Hintertreffen lagen. Wenige Sekunden, bevor es dann wirklich zum ersten Mal in die Kabine ging, kam es zu einer entscheidenden, psychologisch wichtigen Situation. Dave Christian schoss die Scheibe, wohl mehr aus Verlegenheit, auf das Gehäuse von Wladislaw Tretjak. Der sowjetische Weltklasse-Torhüter konnte den harmlosen Schuss aber nur prallen lassen, Mark Johnson nutze die Chance und erzielte eine einzige Sekunde (!) vor Ablauf der Zeit den Ausgleich. In der Halle spürte man es, der Glaube an die Sensation, er flammte immer mehr auf…
Das sowjetische Starensemble zeigte sich aber der eigenen Stärke bewusst unbeeindruckt und stellte nur zwei Minuten nach Wiederbeginn in Überzahl die Weichen wieder auf Sieg – das 3:2 durch Alexander Malzew. Auch im weiteren Verlauf des Mittelabschnittes zeigte die Sbornaja ihre spielerische Klasse und unterstrich ihre Favoritenrolle. Jim Craig, immer wieder Craig – ihm war es zu verdanken, dass das Spiel für die Amerikaner nicht schon gelaufen war. Auch das Torschussverhältnis von 12:2 sprach für sich. Da im Eishockey aber Tore, und nur die, in der Endabrechnung zählen, war für die Mannen von Herb Brooks noch alles drin, als es in die zweite Pause ging.
Bereits nach den ersten 20 Minuten nahm Tichonow Stammtorhüter Tretjak vom Eis und brachte stattdessen Wladimir Myschkin. Diese Entscheidung sorgte für Verwunderung, schien aber zunächst richtig, da der Stellvertreter Tretjaks herausragend hielt. Wie dem auch sei, im Schlussabschnitt zeigte sich die sowjetische Auswahl nicht mehr derart überlegen wie im bisherigen Spielverlauf. Das Publikum in der Halle, das die heimischen Cracks nach besten Möglichkeiten unterstützte, witterte erneut eine Chance und tatsächlich fiel in der 49. Minute der Ausgleich – Mark Johnson stürzte das gesamte Stadion in Jubelstürme. Elf Minuten vor dem Ende stand es remis. Zur Erinnerung: Wenige Wochen zuvor sahen die US-Boys beim 3:10 kein Land gegen die Übermacht aus dem Osten; und nun, als es um olympisches Edelmetall ging, war alles möglich. Die Begeisterung ob des zweiten Treffers von Johnson war noch nicht abgeklungen, als gut anderthalb Minuten später Mark Pavelich die Scheibe zu Kapitän Mike Eruzione spielte, der in mittiger Position relativ viel Platz hatte und abzog…
Es gab kein Halten mehr, niemand konnte es glauben, keiner hielt es für möglich - und doch: Die Scheibe schlug ein, Eruzione traf, die USA ging mit 4:3 in Führung! Myschkin war die Sicht durch die eigenen Verteidiger genommen, ihm blieb nichts anderes übrig, als die Scheibe aus dem eigenen Netz zu fischen. Der Blick auf die Uhr verriet, dass noch gut zehn Minuten zu absolvieren waren.
Die mangelnde Chancenverwertung in den ersten beiden Abschnitten rächte sich nun für die sowjetischen Spieler, von denen sich Viele erstmals in einer solchen Situation befanden, in der es vonnöten war, in Schlussphase eines wichtigen Spiels einen Rückstand aufzuholen. Die Mannschaft von Herb Brooks beschränkte sich nun auf die Verteidigung, tat dies mit Mann und Maus und versuchte die Scheibe von der eigenen Zone fernzuhalten. Die Sbornaja warf alles nach vorne, fand jedoch einfach kein Durchkommen und die Uhr, sie lief gegen Goliath und für David…
„Eleven seconds, you got ten seconds, the countdown´s going on right now […] Morrow up to Silk […] five seconds in the game! Four left in the game! Do you believe in miracles? Yes!! Unbelievable!“ Mit diesen emotionalen Worten gab ABC-Reporter Al Michaels dem Spiel seinen Namen – das Miracle on Ice! Es war vollbracht: Ein Team von amerikanischen College-Spielern bezwang die übermächtige Sowjetunion, eine Geschichte, die in dieser Art und Weise nur der so wunderschöne Sport schreiben kann!
Aber Stopp! Mit diesem Sieg war für Herb Brooks und sein Team noch nichts erreicht. Im Parallelspiel trennten sich Finnland und Schweden mit 3:3. Damit grüßte die USA vor dem letzten Spieltag der Finalrunde zwar von der Tabellenspitze, allerdings nur einen Punkt vor der UdSSR und den punktgleichen Schweden; Finnland belegte mit einem Zähler auf dem Konto den letzten Platz. Das hieß: Um nach dem grandiosen, gelinde gesagt, überraschenden Sieg gegen die Sowjetunion auch die Goldmedaille zu holen, musste in der letzten Partie gegen Finnland ebenfalls ein Sieg her, da mit einem sowjetischem Erfolg gegen Schweden zu rechnen war. Der letzte Schritt zum Triumph, er stand also noch bevor…
Und lange Zeit sah es so aus, als würde das Team bei diesem tatsächlich noch stolpern. Nach 20 Minuten führten die Finnen mit 1:0, nach 40 mit 2:1. „If you loose this game, you´ll take it to your fucking grave!“ soll Coach Brooks Wort für Wort vor dem letzten Spielabschnitt zu seinen Spielern gesagt haben. Seine emotionale Rede erzielte den gewünschten Effekt – Phil Verchota, Robert McClanahan und Mark Johnson hießen die Torschützen zur endgültigen amerikanischen Glückseligkeit! – 4:2! – Gold! Am besten beschrieb es wohl einmal mehr Kommentator Al Michaels: „The impossible dream comes true!“
Gold für die USA! Nach Spielende lagen sich die Spieler und Millionen von Menschen in ganz Amerika in den Armen. In Erinnerung blieb Torwart Jim Craig, der mit grandiosen Leistungen großen Anteil am Triumph hatte, als er in amerikanischer Flagge gehüllt über das Eis fuhr und im Publikum nach seinem Vater Ausschau hielt. Kurz vor den Spielen war Craigs Mutter gestorben, sie wünschte sich, dass ihr Sohn bei diesen Olympischen Spielen dabei sein konnte. Diese Geschichte verlieh dem Moment noch mehr an Bedeutung für den jungen Keeper.
Vergessen wir nicht die sowjetische Mannschaft: Durch den Sieg der USA blieb der 9:2-Erfolg der Sbornaja gegen Schweden lediglich Makulatur. In den folgenden Jahren konnte sie aber ihre Dominanz aufrechterhalten und holte bis zum politischen Ende der Sowjetunion zahlreiche weitere Weltmeisterschaften und Olympiasiege.
Nach den Spielen brach die siegreiche amerikanische Mannschaft schlagartig auseinander. Viele begannen eine Profikarriere, vorzugsweise in der NHL. Im selben Jahr wurde das Team von der „Sports Illustrated“ zum „Sportsman oft the Year“ gekürt, eine Auszeichnung, die für große sportliche Leistungen und Fairness vergeben wird. Bereits ein Jahr später wurde diese sportliche Sensation verfilmt mit dem Titel „Miracle on Ice“ – eine treffende Bezeichnung für ein Spiel, das nach wie vor einen großen Platz in der Geschichte des Eishockeysports einnimmt.
Überraschende Siege, sportliche Höchstleistungen, nicht für möglich gehaltene Favoritenstürze – ob diese Begriffe dem olympischen Eishockeyturnier von 1980 in Lake Placid gerecht werden, kann jeder für sich selbst entscheiden. Unumstritten ist aber, dass es sich um eine fabelhafte Geschichte handelt, deren Drehbuch nur der Sport schreiben kann. Reporter Al Michaels wurde in jenem Jahr für seine Reportagen rund um die Spiele der amerikanischen Mannschaft zum Sportreporter des Jahres gewählt – zurecht. Lassen wir ihn daher noch einmal zu Wort kommen: „Do you believe in miracles?“ – Yes, we do!!