Mythos Ambri – Wo das Eishockey zuhause ist (II)
Mythos Ambri – Wo das Eishockey zuhause ist (II)Teil 2: Wie die Fans ihren Klub vor der Pleite retteten und warum Pierre Pagé heute noch Geld aus Ambri kassiert
von Jürgen Pietzker
Gestern habe ich Ihnen ein wenig über die Heimat des HC Ambri-Piotta erzählt, das 200-Seelen-Dörfchen im Tessin und die Valascia, die Kultstätte des Schweizer Eishockeys. Ich habe davon berichtet, wie der Klub aus dem Bergdorf plötzlich Europas Eishockey-Gipfel eroberte und wie der Mythos Ambri begann. Lesen Sie heute wie dieses Märchen aus der Schweizer Bergwelt weiter geht.
Kein Märchen ohne dunkle Kapitel. Der Schatten, der in den Wintermonaten über dem Tal der Leventina liegt, sollte sich nach der Zeit der internationalen Blüte auch über den HCAP ausbreiten. Die umtriebigen und rührigen Macher des Schweizer Eishockey-Wunders mussten erkennen, dass die Regeln und Gesetzmäßigkeiten des Wirtschaftslebens keinen Bogen um ihre scheinbar so heile Bergwelt gemacht hatten. Sie hatten sich schlichtweg finanziell übernommen. Der HC Ambri-Piotta stand vor dem wirtschaftlichen Ruin.
Ende der Saison 2000/2001 hatten sich Verbindlichkeiten von rund 4,5 Millionen Fränkli angehäuft. Einen nicht geringen Teil dieser Summe darf man getrost einem Mann zuschreiben, der in Deutschland nur zu gut bekannt ist. Im Jahr 2000 trat ein gewisser Pierre Pagé seinen Job als Headcoach in Ambri an. Statt in namhafte Spieler investierte der Klub kräftig in den damals 52-Jährigen, der als erster NHL-Coach in der Schweizer Nationalliga A anheuerte. Mit dem Auftrag, jede Menge Eigengewächse ins Team zu integrieren und langfristig eine neue Spitzenmannschaft aufzubauen.
Am Ende der Saison hatte das neuformierte Team die Playoffs verpasst, und der mit einem Drei-Jahres-Vertrag ausgestattete Hoffnungsträger Pagé durfte nach nur einer Spielzeit seinen Hut nehmen. Ohne natürlich auf seine restlichen Gehaltsforderungen zu verzichten.
Bekommt heute noch Geld aus Ambri: Pierre Pagé - Foto: City-Press
Pagé wechselte zu den Eisbären nach Berlin und ließ seinen Anwalt heftig mit den Ambri-Verantwortlichen streiten. Am Ende hatten die findigen Vereinsbosse die Sache in letzter Sekunde halbwegs wieder hingebogen. Pagé verzichtete zwar nicht auf sein Geld, erklärte sich aber mit jährlichen Ratenzahlungen einverstanden. Ein Deal, der dem kanadischen Eishockey-Lehrer noch heute eine jährliche Zahlung von 50.000 Franken einbringt.
Ja, schauen Sie ruhig in Ihren Kalender: Wir schreiben das Jahr 2008 und die Ambrinesi zahlen immer noch an einem Engagement aus dem 2000 ab. Unglaublich, aber wahr! Der Mann, der mir dies erzählt hat, muss es wissen. Seit dieser Zeit hält er gemeinsam mit ein paar ähnlich Verrückten den Laden in Ambri am Laufen.
Wie groß die Finanznot wirklich war, mag Ihnen, lieber Leser, die Tatsache belegen, dass der HC Ambri-Piotta 2001 buchstäblich zum Verkauf stand. Hätten wir uns seinerzeit schon gekannt, hätten wir damals gemeinsam einen der zu diesem Zeitpunkt erfolgreichsten Eishockeyklubs Europas käuflich erwerben können. Sie, ich und ein paar andere Eishockey-Narren hier von Hockeyweb. Allerdings hätten Sie Ihr Sparschwein schon recht arg plündern müssen.
Fans sammeln über eine Million Franken
Mit sage und schreibe 80 Millionen wollte ausgerechnet ein Schotte beim HC Ambri-Piotta einsteigen. Neben der Verpflichtung neuer Spieler sollte diese schwindelerregende Summe vor allen Dingen in ein neues Stadion, ein Schwimmbad und ein Sport-Internat fließen. Es hörte sich gut an, was dieser Tom Stewart den staunenden Schweizern erzählte. So gut, dass sie sogar bereit waren, einen amerikanischen Manager und Vertrauten Stewarts als Vereinspräsidenten zu akzeptieren.
Man stelle sich vor: Ein Schotte und ein Amerikaner gemeinsam an der Spitze des schweizerischsten aller Schweizer Hockeyklubs. Eine Vorstellung, die höhere Mächte auf den Plan rief. Es muss die Vorsehung gewesen sein, die Stewart und seine hochtrabenden Pläne als Seifenblase enttarnte und die Ambrinesi vor dem Verkauf ihrer Seele bewahrte.
Sie schafften es auch ohne fremde Hilfe. Plötzlich floss das Geld von allen Seiten. Neue Sponsoren schossen frisches Geld in die Kasse. Und die Fans bewiesen, dass ihr „un amore senso unico“ – was wohl sinngemäß soviel bedeutet wie „es gibt nur eine Liebe“ - kein leerer Spruch ist. 20.000 Spenden gingen ein und brachten weit über eine Million auf die leeren Konten. Über so viel öffentliche Anteilnahme konnten auch die Politiker nicht länger hinweg sehen. Das Finanzamt stundete dem HCAP eine Steuerschuld von 1,2 Millionen Franken. Ambri war gerettet.
Weil die Menschen der Schweizer Bergwelt dies vom Leben gelernt haben, passten sie sich auch jetzt wieder der rauer gewordenen Umgebung an. Sie schnallten den Gürtel etwas enger. Aber nur gerade so weit, dass die Zugehörigkeit zur ersten Schweizer Liga, der NLA, nicht ernsthaft in Gefahr geriet.
Die Fans kommen aus der ganzen Schweiz und sie opfern ihr Letztes für ihren Klub. Der gibt den Anhängern diese Treue öffentlich zurück. Zum Beispiel mit Bannern wie diesem, das in der Valascia unter der Decke hängt. Foto: www.fotografa.ch
Die fetten Jahre waren damit erst einmal vorbei. Aber noch einmal versuchten die Macher ihren Klub wieder nach oben zu bringen. Für Spieler wie Guy Trudel und Hnat Domenichelli griffen sie noch einmal tief in den Geldbeutel. Der große Erfolg indes blieb aus, 2007 verpasste der HCAP zum ersten Mal seit fünf Jahren in Folge wieder die Playoffs. Trudel wechselte zurück nach Nordamerika und Domenichelli zu Beginn dieser Saison zum Erzrivalen Lugano.
Daran, dass mir der Name „Lugano“ nur schwer aus der Tastatur will, merke ich, dass ich mich immer mehr zum Ambri-Fan entwickle. Um ein Haar hätte ich „LugaNO“ geschrieben. So, wie das jeder echte Ambri-Tifosi tut, wenn er denn den Namen des ungeliebten Nachbarklubs nicht gänzlich vermeiden kann.
Apropos Fans. Wir können nicht über Ambri sprechen, ohne ein Wort über die Anhänger zu verlieren. Seien Sie mir nicht gram, selbst wenn Sie aus Berlin, Iserlohn, Düsseldorf, Straubing oder sonstwo herstammen: Die Ambri-Fans sind etwas ganz besonderes. In jeder Hinsicht. Sie reisen von überall her zu den Heimspielen an, der Ambri-Tross bei Auswärtsspielen ist der größte der gesamten NLA. Sie geben buchstäblich ihr letztes Hemd für ihren Klub und werfen den letzten Rappen, den sie in ihrem Portemonnaie finden, in die Waagschale, wenn es für ihren Klub ums Überleben geht.
Was die Curva Sud mit Che Guevara zu tun hat
In der Valascia steht der harte Kern in der „Curva Sud“ wie ein Mann hinter seinem Team und wehe dem Gegner oder Schiedsrichter, der den Spielern der Biancoblu etwas Böses will!
Che-Guevara-Doppelhalter zeugen für viele Betrachter von der politischen Linkslastigkeit der Ambrinesischen Ultraszene. Was diese natürlich empört zurückweist. In der Tat sind viele, die das Antlitz Guevaras in die Luft recken, viel zu jung um die Hintergründe um den kubanischen Revolutionär aus den 50er und 60er Jahren zu wissen. Für sie geht es eher um ein Symbol. Ein Symbol für die Besonderheit ihres Klubs und ihrer eigenen Fanszene. Für die älteren unter ihnen steht Guevara für den Kampf der Kleinen und Unterdrückten gegen die Mächtigen und Reichen dieser Welt. Der Kampf, den sie in Ambri seit Jahrzehnten kämpfen, wenn die Teams der reichen Klubs aus Lugano und dem Norden in das Tal der Leventina zum Hockey-Match einfallen.
Die Curva Sud: Hier steht der harte Kern der Ambri-Tifosi. Auch wenn Che-Guevara-Fahnen und überbordende Leidenschaft immer wieder für Gesprächsstoff sorgen, das Team der Biancoblu ist stolz auf seine Fans. Foto: www.fotografa.ch
Leider - und das gehört auch zu den düsteren Kapiteln des Ambri-Märchens - schießen die Tifosi dabei auch immer wieder mal übers Ziel hinaus. Da gibt’s für Gästefans auch schon mal was aufs Maul und es kann passieren, dass ein Schiedsrichter nach dem Spiel unter Polizeischutz die Heimreise antreten muss. Vor einigen Jahren brummte der Verband dem HCAP 4000 Franken Strafe auf, weil Fans nach einem Spiel gegen Rapperswil Schiedsrichter Reiber eine andere Form der Regelauslegung etwas zu nahe bringen wollten und dabei auch dem Auto des Unparteiischen eine neue Form verpassten.
Die Verantwortlichen des HC Ambri-Piotta sind sich dieser Problematik natürlich bewusst. Sie wissen, dass ein Teil der Fans den Klub immer wieder mal in Verruf bringt. Sie wissen aber auch, dass die Fanszene in ihrer Gesamtheit die Einzigartigkeit ihres Klubs ausmacht. Die Kunst besteht darin, immer wieder die Balance zwischen Gewaltvermeidung und Emotionsfreiheit für die Anhänger zu finden.
Beim Derby gegen den HC Lugano säumte das größte Polizei-Aufgebot, das Ambri je gesehen hatte, die Valascia und die wenigen Zugangswege. Die Busse der angereisten Luganesi-Fans wurden in ein abgesperrtes Areal unmittelbar unter der Gästetribüne geleitet und blieben dort bis Spielschluss stehen. Erst lange nach Spielende durften die Luganer Fans ihren Block verlassen und konnten ohne „Feindberührung“ aber unter strenger Aufsicht der Polizisten in die wartenden Busse steigen. Ob Sie es glauben oder nicht, von Gewalt oder auch nur drohenden Auseinandersetzungen habe ich nichts gespürt und bis heute auch nichts erfahren.
Lesen Sie morgen: Warum Hnat Domenichelli den HCAP wirklich verließ, was ein Düsseldorfer Verteidiger am vergangenen Wochenende in Ambri gemacht hat und was das Besondere ist, wenn der HC Ambri-Piotta auf den HC Lugano trifft.
Bereits veröffentlicht: Die Heimat der Biancoblu und wie ein 200-Seelen-Dorf Europas Nummer 1 wurde.
Der Autor: Jürgen Pietzker war in den 70er und Anfang der 80er Jahre Chefredakteur des Sport-Beobachter, des Sport Megaphon und der Fußball-Woche. Neben unzähligen Spielen der höchsten deutschen Eishockeyliga hat er von Eishockey-Weltmeisterschaften und anderen Groß-Ereignissen berichtet. Pietzker lebt heute in Hamburg und arbeitet als selbständiger Verlags- und Medienberater. Dem Eishockey ist er als ständiger Beobachter bis heute treu geblieben. Kopieren und Vervielfältigen des Artikels in jeder Form nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.