Renaissance in Boston: Original-Six-Team wieder in der Erfolgsspur
Boston Bruins-Torhüter Tim Thomas: Underdog-Goalie wird zum Star in der NHL
Die
divisionsbereinigte Tabelle der National Hockey League zeigt derzeit die San
Jose Sharks und die Boston Bruins an der Spitze. Bei den Haien aus Kalifornien
verwundert das nicht, gilt das Team vom NHL-Headcoach-Novizen Todd McLellan doch
als enorm talentiert, wenn auch bislang mit wenig zählbaren Erfolgen. Die
Bruins hatte dagegen vor dieser Saison keiner auf der Rechnung, doch der
Original-Six-Verein spielt munter vorne mit, hat vor der Partie bei den Washington
Capitals heute Nacht von bisher 27 Saisonspielen 19 gewonnen und zieht
mittlerweile wieder die Fans in Massen in den TD Banknorth Garden.
Dabei ist es
noch gar nicht so lange her, dass Bruins und Sharks einen der
aufsehenerregendsten Deals der NHL-Geschichte vereinbart hatten, bei dem die
Hockeywelt den Klub aus Massachusetts als deutlichen Verlierer sah: Stürmerstar
Joe Thornton, Kapitän der Bruins, 1997 als erster in der Talentziehung
gedraftet und gerade erst mit einem neuen Dreijahresvertrag über 20 Millionen
US-Dollar ausgestattet, wechselte am 30.November 2005 für Verteidiger Brad
Stuart sowie die Stürmer Wayne Primeau und Marco Sturm nach San Jose. Viele
sahen in diesem Tausch den endgültigen Todesstoß für die Franchise aus Boston, umso
überraschender jetzt der Aufstieg zum Tabellenführer in der Eastern Conference.
Denn selbst
nachdem in Boston ein Jahr nach dem NHL-Lockout praktisch das gesamte
Führungspersonal ausgetauscht worden war, sah es zunächst nicht so aus, als
könnte der Klub wieder an alte Erfolge anknüpfen. Peter Chiarelli, der neue
Manager, hatte vor der Saison 2006/07 mit den Neuzugängen Zdeno Chara und Marc
Savard groß investiert, aber kaum Rendite erhalten. Das Team landete erneut nur
auf dem letzten Platz in der Northeast Division, und Chiarelli griff zum letzten
Mittel: Er feuerte den erst vor der Saison verpflichteten Trainer Dave Lewis
und holte Claude Julien nach Boston.
In dem bei
den Montreal Canadiens und New Jersey Devils als Headcoach verkannten Kanadier
sahen nicht wenige Experten nur die „kleine Lösung“, da angeblich etliche
renommiertere Kandidaten Chiarelli einen Korb gegeben hatten, doch Julien
belehrte seine Kritiker eines Besseren. Er schaffte zunächst wieder klare
Verhältnisse im Team und ließ seine Schützlinge ihre Stärken ausspielen.
Angefangen bei Torhüter Tim Thomas, der trotz guter Statistiken von vielen
immer noch als Minor-League-Goalie angesehen wurde: Der 34-Jährige bekam von
Julien den Rücken gestärkt, nun hat er Spitzenwerte bei Gegentorschnitt und Fangquote
und ist ein heißer Kandidat für das US-Olympiateam – und für die Vezina Trophy,
die alljährlich nach Saisonende für den besten NHL-Schlussmann vergeben wird.
Vergangenes Jahr war Thomas bereits „Winning Goalie“ beim All Star-Game,
allerdings nur als Ersatz für den damals indisponierten Martin Brodeur. Diese
Saison wird er sich seine Teilnahme redlich selbst verdienen, sofern kein
plötzliches Formtief oder eine Verletzung dazwischen kommt.
Ähnlich ging
es Verteidiger und Kapitän „Big Z“ Chara, dem Ex-Trainer Lewis ausgerechnet seine
Stärken austreiben wollte. Chara lebt nun einmal von seiner Physis, kann
fürchterliche Checks austeilen, verfügt über den derzeit härtesten Schlagschuss
in der NHL und sucht auch als gelegentlicher Faustkämpfer seinesgleichen. Unter
Lewis und dessen striktem Kampfverbot torkelte der 2,06 m große Hüne aber hilflos über
die Eisfläche wie einst Samson ohne Haare und hatte dazu eine grottenschlechte
Plus-Minusstatistik von -21; Coach Julien ließ Chara von der Leine, seitdem
spielt der Slowake wie ausgewechselt.
Julien kann aber
auch anders: Mittelstürmer Marc Savard, bis zu seinem Wechsel nach Boston nicht
gerade für viel Eifer im eigenen Drittel bekannt, ordnete sich zwar sofort in
Juliens Defensivsystem ein und unter, doch Phil Kessel, Erstrundendraftpick
2006 und hochbegabt, hatte seine Probleme mit der Abwehrarbeit. Der Trainer
ließ deshalb Kessel während der Play-Off-Serie gegen die Canadiens ein paar
Spiele auf der Bank schmoren, und der Weckruf half, ohne dass der Stürmer seine
eigentlichen Stärken einbüßte: Kessel liegt derzeit mit 17 Treffern ligaweit an
dritter Stelle der Torjäger-Statistik. Zusammen mit Savard und Außenstürmer
Milan Lucic bildet der junge US-Amerikaner eine der besten Angriffsreihen der
NHL. Lucic trainierte während der vergangenen Saison zeitweise unter Anleitung
von Bruins-Ikone Cam Neely, der Lucics Stärken beim körperbetonten Spiel
weiterentwickeln half. Ein Vergleich mit dem Hall of Famer Neely wäre
sicherlich noch verfrüht, dennoch sind Lucics Hits mittlerweile bei den Gegnern
gefürchtet. Der geniale Spielmacher Savard, die Kampfmaschine Lucic und der
Sniper Kessel – das Trio harmoniert hervorragend.
Aber die Bruins haben noch
mehr zu bieten, ob es nun die Center Patrice Bergeron, David Krejci und
Stéphane Yelle oder die Außen Blake Wheeler, P.J. Axelsson und Michael Ryder
sind. Dabei laboriert Marco Sturm, der teamintern beste Torschütze der
vergangenen Saison, derzeit noch an den Folgen einer Gehirnerschütterung und
hat seit Mitte November kein Spiel mehr bestreiten können. Doch Verletzungen
gehören in der NHL zum Geschäft, und Coach Julien hatte bereits letztes Jahr
einen Weg gefunden, den damals ebenfalls wegen einer Gehirnerschütterung ausfallenden
Patrice Bergeron zu ersetzen.
Aktuell
gehören neben dem Dingolfinger Sturm, dem letzten „Überlebenden“ des
Thornton-Deals, auch noch die Verteidiger Andrew Ference und Aaron Ward zu den
Rekonvalezenten. Die Bruins sind offensichtlich tief genug besetzt, um derlei
Ausfälle zu kompensieren. Auf der wichtigsten Position, im Tor, steht hinter
Tim Thomas mit Manny Fernandez ein NHL-Routinier, der vergangenes Jahr schon
fast als Fehleinkauf abgestempelt worden war, diese Saison jedoch zu alter
Stärke zurückgefunden und sieben Spiele in Folge gewonnen hat. Dazu liegt
Fernandez bei Gegentorschnitt und Fangquote wie sein Teamkollege jeweils unter
den besten fünf Goalies der Liga. So stark waren die Bruins seit den Tagen des
Torwart-Tandems Réjean Lemelin-Andy Moog nicht mehr.
Wobei zu erwähnen ist,
dass Boston 2003/04, im letzten Jahr vor dem Lockout, die Vorrunde als
punktbestes Team der Eastern Conference abgeschlossen hatte, dann aber bereits
in Runde eins der Play-Offs gegen die Montreal Canadiens nach sieben Spielen
ausschied. Damals hatte das Team mit Kapitän Joe Thornton bereits mit
3:1-Siegen geführt; das Scheitern wurde unter anderem auch „Jumbo Joe“
angelastet, der ein halbes Jahr später gen Westen verfrachtet wurde. Wer weiß,
vielleicht kommt es im Stanley Cup-Finale zu einem Aufeinandertreffen der
Bruins mit den San Jose Sharks und zum Wiedersehen mit dem einstigen Hoffnungsträger. Dann würde sich der Kreis schließen.
(Oliver
Stein)