Joe Thornton: Vorrunden-Primus und Playoff-Niete

Die San Jose
Sharks, Vorrundenspitzenreiter in der nordamerikanischen National Hockey League (NHL), sind in der Nacht zum Dienstag bereits in der ersten Playoff-Runde nach
einer 1:4-Niederlage bei den Anaheim Ducks (17. in der divisionsbereinigten NHL-Tabelle) und einem Endstand von 4:2-Siegen für
Anaheim ausgeschieden. Es war erst das vierte Mal seit 1986, dass der Gewinner
der Presidents’ Trophy (für das punktbeste Team der Vorrunde) gleich in der
ersten Serie die Segel streichen musste; Chicago 1991, St. Louis 2000 – gegen
San Jose – und Detroit 2006 waren die anderen gestürzten Top-Favoriten auf den
Stanley Cup.
Aber viele Experten hatten insgeheim schon damit gerechnet, denn die Blamage
der Sharks und deren auch ansonsten stets „sub-optimal“ verlaufene Endrundenabenteuer
sind seit 2006 eng mit einem Namen verbunden, der mittlerweile im nordamerikanischen
Eishockey schon fast als Synonym für Versagen gilt: Joe Thornton, 29-jähriger kanadischer
Mittelstürmer, 1997 als Erster in der NHL-Talentziehung von den Boston Bruins
ausgewählt und seitdem in schöner Regelmäßigkeit immer dann überragend, wenn es
um nichts geht, aber auf die Sekunde genau zur Playoff-Zeit auf „Beamten-Niveau"
abgleitend. Mittlerweile würden viele ältere Fans im Mutterland des Eishockeys
den immer gut gelaunten Sunnyboy lieber als ihren Schwiegersohn denn als Center
ihres Lieblingsteams haben; im Internet geistern schon Vorschläge herum, wie
man „Jumbo-Joe“ mit einer anderen Staatsbürgerschaft versehen könnte, um ihn
bei den Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver nicht im Trikot mit dem
Ahornblatt auflaufen zu sehen. Und möglicherweise tut ihnen der 1,93 große
Vorrunden-MVP von 2006 den Gefallen, wenn er nämlich seine Schweizer Verlobte
Tabea Pfendsack ehelichen und vielleicht endgültig zu den Eidgenossen
übersiedeln sollte (bislang hat er nur eine Wohnung in den Alpen).
In der
Schweiz hat Thornton immerhin das fertiggebracht, was ihm in seiner Heimatliga
schon fast so sicher wie ein Sonnenaufgang am Morgen beständig misslingt: Einen
Titel gewonnen und dabei seine Form aus der Punktrunde fürs Stahlbad Playoffs
konserviert. Vierzehn Spiele, vier Tore, 21 Vorlagen – seitdem darf sich
Thornton „Schweizer Meister“ nennen, auch wenn das in Nordamerika nicht viel
zählt. Die Sharks hatten jedenfalls vor und während dieser Saison nichts
unversucht gelassen, um „The Curse Of The Big Bambino“ endlich ad acta legen zu
können: Ein neuer Coach mit Playoff-Erfahrung (Todd McLellan) wurde vom
Titelverteidiger Detroit Red Wings losgeeist, ein Stürmer-Veteran mit der
rechten Einstellung (Jeremy Roenick) wurde für kleines Geld verpflichtet, zwei
Stanley Cup-beringte Verteidiger (Dan Boyle und Rob Blake) wurden nach
Nordkalifornien gelotst und sogar der berüchtigte Quälgeist Claude Lemieux
wurde quasi aus dem Altenheim in die härteste Liga der Welt zurückgeholt (wenn
auch mit letztlich recht wenig Eiszeit). Dazu legte man zur Trade Deadline
nochmals nach und verpflichtete mit Travis Moen einen weiteren Spieler mit dem
in den Playoffs so dringend benötigten Temperament. Doch es half bekanntermaßen wieder
nichts, und bei den Emotionen scheint Thornton wirklich die entscheidenden
Defizite zu haben. In Spiel 4 der diesjährigen Playoffs in Anaheim ähnelte
seine Darbietung eher einem mühelosen Schaulaufen bei einem Eiskunstlauf-Turnier
als der Verbissenheit eines hochbezahlten Profis, der sich für sein Team den
Allerwertesten aufreißt. Eine Partie später allerdings schien Thornton den
Schalter umgelegt zu haben - ein Tor und zwei Vorlagen steuerte er zum
3:2-Heimsieg nach Verlängerung bei, und Teamkollege Roenick war zu vernehmen: „Joe
hat nicht einen bösen Knochen in seinem Körper, das ist einfach nicht sein
Charakter. Heute hat er aber erstmals richtig wütend gespielt, und wenn er das
weiterhin tut, sind wir nicht zu stoppen.“ Doch außer einem wüsten Faustkampf gegen
Ducks-Center Ryan Getzlaf gleich zu Beginn von Spiel 6 war von Jumbo-Joes Wut
nicht mehr viel zu sehen.
Bei den
Boston Bruins, Thorntons erster NHL-Station, weint mittlerweile niemand mehr dem
einstigen „Gesicht der Franchise“ eine Träne nach. Manager Mike O’Connell
durfte zwar kurz nach dem Paukenschlag-Deal im November 2005, als er Thornton
für Verteidiger Brad Stuart und die Stürmer Wayne Primeau und Marco Sturm nach
San Jose schickte, seinen Posten räumen, aber zuvor hatte O’Connell noch dazu
beigetragen, dass die Bruins heute so stark geworden sind: Unter anderem
draftete er Patrice Bergeron, Tim Thomas, Mark Stuart, P. J. Axelsson, David Krejci
und Milan Lucic. Mit dem durch Thorntons Abgang freigewordenen Geld konnte O’Connells
Nachfolger Peter Chiarelli zudem Verteidiger-Ass Zdeno Chara und Spielmacher
Marc Savard nach Boston locken, und momentan würde wohl kein Eishockey-Fan im
US-Bundesstaat Massachusetts den früheren Teamkapitän zu den Bruins zurückholen wollen.
Einer hat es
natürlich beinahe schon von Anfang an gewußt: Boston Globe-Reporter Kevin Paul Dupont,
der bereits zum Trade im November 2005 bemerkte: „Die Bruins hofften bei
Thornton, dass er seine Gegner mit dem Körper hochkant gegen die Bande befördert;
stattdessen versuchte Joe, sie mit seinem freundlichen Lächeln zu bezirzen.“
Tatsächlich hat auch Thorntons jetziger Coach Todd McLellan die Schwachstelle im
Spielvermögen seines Top-Centers erkannt und analysiert: „Er probiert es zu
sehr von der Seite an den Bully-Kreisen; dadurch ist er zu leicht auszurechnen.
Er müsste mehr seinen Körper benutzen, um sich den Weg zum Tor zu bahnen“. Ähnliche
Vorwürfe durfte sich einst – nicht zu Unrecht – auch Mario Lemieux
anhören. Wie Thornton setzte Lemieux seinen Größenvorteil viel zu selten
ein, bis ihm sein Klub Pittsburgh Penguins endlich Boliden wie Kevin Stevens und Grobtechniker wie Ulf Samuelsson und Darius Kasparaitis für die physischen
Komponenten des Spiels zur Seite stellte. Ganz so einfach wird es für Thornton
nicht werden, im Gegenteil: In den einschlägigen Gazetten wird bereits darüber
spekuliert, welches Team als nächstes versucht, den eigentlich hochbegabten
Stürmer endlich zu einem „Winner“ zu formen. Noch hat Thornton in San Jose einen
für weitere zwei Jahre gültigen Vertrag; allerdings hat ihn das auch 2005 in
Boston nicht vor einem Trade bewahrt. (Oliver Stein)