Jewgeni Malkins abenteuerliche Flucht aus RusslandGefangen in Helsinki

Helsinki, im August 2006: In einer „konspirativen Wohnung“ in der finnischen Hauptstadt sitzt ein junger, äußerst talentierter Eishockeyspieler fünf Tage in seinem Versteck fest, bewacht von privaten Sicherheitsleuten. Fünf Tage zwischen Hoffen und Bangen: Würde er sich seinen Traum von der NHL erfüllen können, würde er zurück in die Heimat gehen müssen, würde er dort überhaupt noch Eishockey spielen können? Diese Fragen quälen den jungen Mann, der alles riskiert hatte, um sein großes Ziel zu erreichen. Sein Name ist Malkin, Jewgeni Malkin. Doch wie konnte es mehr 15 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion so weit kommen, dass der junge Malkin fliehen musste und ernsthafte Repressalien fürchtete, sollte seine Flucht scheitern?
Rückblende: Jewgeni Malkin wuchs mit seiner Mutter Natalia und seinem Bruder Denis, der sich ebenfalls als Eishockey-Profi versuchen sollte, aber bei Weitem nicht Jewgenis Talent hatte, in der russischen Stahlstadt Magnitogorsk in einfachen Verhältnissen auf. Sein Vater Vladimir arbeitete in einer der zahlreichen Stahlwerke der Stadt und fertigte dem kleinen Jewgeni ein paar Kufen, die er an seinen Stiefeln befestigen und so im Alter von drei Jahren die ersten Schritte auf dem Eis machte. Zeitgleich dazu hatte der Oligarch und Stahl-Milliardär Viktor Rashnikov den 1955 gegründeten, meist unterklassig spielenden Eishockey-Club Metallurg Magnitogorsk aufgerüstet – dabei aber sowohl in den Profi- als auch den Nachwuchsbereich kräftig investiert. Mit sechs Jahren wurde Jewgeni Malkin in das Förderprogramm aufgenommen und fiel sofort durch sein außergewöhnliches Talent auf. Seine Entwicklung ging stetig voran und so wurde er in die russische Junioren-Auswahl aufgenommen, gewann mit dem Team – unter anderem an der Seite des jungen Alexander Ovechkin – mehrere WM-Medaillen und erhielt zahlreiche individuelle Auszeichnungen.
Das weckte nicht nur die Begehrlichkeiten des Club-Eigners und seines General Managers Gennady Velichkin, sondern rief auch die NHL-Scouts auf den Plan. Im Sommer 2004 wurde er beim Entry Draft schließlich an Position zwei von den Pittsburgh Penguins gewählt – hinter Alexander Ovechkin, der bekanntermaßen von den Washington Capitals gedraftet wurde. Malkin kehrte nach Russland zurück und spielte seine zweite Profi-Saison mit Metallurg – mittlerweile in der höchster Liga Russlands angekommen – und sorgte weiter für Furore. Als sich im folgenden Sommer Malkins NHL-Pläne sich erstmals konkretisierten, schloss er mit dem Club einen Deal: Er verlängerte um ein Jahr und sollte dann 2006 nach Nordamerika wechseln dürfen.
Dann aber blockierte das Metallurg-Management plötzlich, fühlte sich an die Freigabe nicht mehr gebunden und behielt sogar Malkins Reisepass ein, so dass er nicht ausreisen konnte. Mit allen (legalen) Mitteln versuchten die Verantwortlichen, ihn von einer weiteren Vertragsverlängerung zu überzeugen, boten ihm gutes Geld an, appellierten an sein Herz, seine Ehre, die Liebe für das russische Vaterland. Doch Jewgeni Malkin hielt an seinem Traum fest, wehrte sich lange gegen alle Avancen – knickte aber schließlich doch ein unter dem moralischen Druck und unterschrieb schweren Herzens einen Jahresvertrag für die Saison 2006-2007.
Noch ein weiteres Jahr in Russland?
Doch Malkin fühlte sich bereit für die NHL, wollte so schnell wie möglich wechseln – und wegen der Blockade durch Metallurg fühlte er seinen Traum in seiner Hand zerrinnen. Er kontaktierte sein Management in den USA und bat um Hilfe. Pat Brisson und J.P. Barry schmiedeten daraufhin einen tollkühnen Plan: Magnitogorsk spielte in der Vorbereitung auf die Saison 2006-2007 ein Turnier in Finnland. Dafür musste der Club Malkin seinen Pass wieder zurückgeben, um ihm die Einreise nach Finnland zu ermöglichen. Das ist die Chance!
Noch am Flughafen setzt sich Malkin vom Team ab, wird von Olga McQueen, einer russisch-stämmigen Mitarbeiterin seines Beraters in Empfang genommen und in jene konspirative Wohnung gebracht. Fünf Tage bleibt er wie vom Erdboden verschluckt – nicht einmal seine engsten Freunde hat er eingeweiht, auch seine Eltern sind völlig ahnungslos. Die Suche nach dem talentierten russischen Eishockeyspieler erregt weltweit Aufmerksamkeit. Malkin vertreibt sich irgendwie die Zeit, wagt es nicht einmal, durch die zugezogenen Vorhänge aus dem Fenster nach draußen zu linsen. Seine Berater versuchen, über das unmittelbar in der Nähe gelegene amerikanische Konsulat in Helsinki ein Schnellvisum zu bekommen, mit dem er in die USA einreisen kann. In der Zwischenzeit haben Barry und Brisson für alle Fälle sogar Wachen postiert, auch wenn keine unmittelbare Gefahr drohte.
Nach fünf Tagen war das Visum da. Malkin stieg noch am selben Tag ins Flugzeug, nicht wissend ob er seinen Traum sich würde erfüllen können und ob er jemals wieder seine Heimat und seine Familie wiedersehen würde, das große Ziel NHL jedoch fest im Blick.
In Los Angeles erwartete ihn sein neues Leben – und eine völlig neue Welt: Die Schrift, die Sprache, die Metropole Los Angeles – und selbst alltäglichste Dinge wie Geld abheben oder sich in der Stadt zurechtfinden stellten ihn vor sehr große Herausforderungen. Nach drei Wochen Training reiste er alleine nach Pittsburgh zu seinem neuen Team – und wurde in der Steel City herzlich empfangen. Noch am gleichen Abend war er bei Club-Präsident Mario Lemieux zu einem Essen eingeladen, an dem auch Sidney Crosby und der erfahrene russische Verteidiger Sergej Gonchar teilnahmen. Letzter bot Malkin an, erstmal bei ihm wohnen zu können, um ihm den Einstieg in die neue Welt zu erleichtern.
So konnte Jewgeni Malkin gut zwei Monate nach seiner Flucht aus seiner russischen Heimat sein erstes NHL-Spiel gegen die New Jersey Devils absolvieren – und traf gleich gegen Torwart-Legende Martin Brodeur. In der Saison machte Malkin mehr als 80 Punkte und gewann die Calder-Trophy für den besten Rookie. Es folgten zahlreiche weitere Auszeichnungen (MVP, bester Scorer) – und drei Stanley Cups mit den Penguins, 2009 an der Seite Gonchars.
Im Sommer 2007 kehrte er nach Russland zurück, um seine Familie zu wieder zu sehen. Zwischenzeitlich hatten sich die Wogen geglättet. Malkin hatte man verziehen, Club-Boss Rashnikov empfing ihn sogar persönlich am Flughafen mit einer herzlichen Umarmung. Ende gut, alles gut!
Nun hat Malkin als 88. Spieler der NHL-Geschichte die magische 1000-Punkte-Marke erreicht . Vor ihm haben das in der mehr als 50jährigen Franchise-Historie der Penguins nur Mario Lemieux, Jaromir Jagr und Sidney Crosby. Malkin benötigte dafür nur 848 Spiele. Kaum zu glauben, dass es zwischenzeitlich beinahe aussichtslos erschien, dass er jemals auch nur ein einziges NHL-Spiel würde absolvieren können.
In diesem Sinne: Congratulations, Geno!