Boston Bruins-Torhüter Tim Thomas: Underdog-Goalie wird zum Star in der NHL

Timothy
Thomas junior hat lange gebraucht, um endlich dort hinzukommen, wo er inzwischen
nicht nur seiner Meinung nach hingehört: Ins Tor eines NHL-Teams, in seinem
Fall bei den Boston Bruins, die mit dem 34-jährigen US-Amerikaner zum ersten
Mal seit den Tagen von Andy Moog Anfang der neunziger Jahre einen absoluten
Topmann zwischen den Pfosten haben. Dabei ähnelt Thomas in seinem Spiel eher
einem anderen NHL-Spätzünder, nämlich Dominik Hasek, der ähnlich
unkonventionell lange Zeit die Stürmer in der besten Eishockey-Liga der Welt
zur Verzweiflung brachte. „Tank“, wie Thomas von seinen Teamkameraden gerufen
wird, ist dabei wie Hasek jedes – erlaubte – Manöver recht, um die kleine
Hartgummischeibe vor dem Überschreiten der Torlinie aufzuhalten. Und auch „The
Dominator“ hatte einst lange warten müssen, bis er bei den Buffalo Sabres den
Durchbruch schaffte.
Tim Thomas hat den Umweg über Skandinavien genommen und
dort gut gespielt, teilweise sogar geglänzt, wie man während des NHL-Lockouts
sehen konnte, als dem 1,80 Meter großen Torwart bei Jokerit Helsinki in der
finnischen SM-Liiga 15 Shutouts gelangen und er sowohl von der Ligenleitung als
auch von seinen Profikollegen zum wertvollsten Spieler der Saison 2004/05
gekürt wurde. Doch selbst das reichte den gewohnt konservativen Sportlichen
Leitern in der NHL noch nicht, um Thomas einen Posten anzubieten. Daher
unterschrieb der Goalie im Sommer 2005 zunächst wieder bei Jokerit, bevor ihn die Bruins mit einem Zweiwegevertrag zurück nach Nordamerika lockten - die vermeintlich letzte Chance, es doch noch bis zur "Show" zu schaffen.
Boston war
nach den Québec Nordiques, die Thomas 1994 an 217. Stelle gedraftet hatten, Colorado und
Edmonton die vierte NHL-Station des passionierten Jägers. Die Avalanche hatte
ihn 1997 ziehen lassen, die Oilers gaben ihm im gleichen Jahr einen
Vertragsbonus von 75.000 Dollar, den er 1998 zur Hälfte an Edmonton
zurückzahlte, um aus seinem Kontrakt herauszukommen. Gespielt hatte Thomas bis 2005
erst viermal in der NHL, jeweils für die Bruins, und seine Stats sahen dabei
gar nicht schlecht aus: Drei Siege, eine Niederlage, im Schnitt drei Gegentore
pro Partie und eine passable Fangquote von knapp 91 Prozent, aber immer noch
standen mit dem Ex-Neuling des Jahres Andrew Raycroft und Jungtalent Hannu
Toivonen zwei Torhüter vor ihm auf der Karriereleiter. Diesmal hatte Thomas
Glück, dass sich beide Goalies verletzten – „Tank“ nahm die Chance wahr und hat
sich seitdem kontinuierlich gesteigert. Vergangene Saison durfte er als
Stellvertreter von Martin Brodeur am All Star Game teilnehmen, dieses Jahr
wurde er zu Recht in den Kader gewählt und konnte sich zum zweiten Mal in Folge
als Sieger in die All Star-Torwartstatistiken eintragen lassen. Im Sommer 2008 hat der Fitness-Freak
sogar Yogaübungen in sein Trainingsprogramm aufgenommen, um seine Beweglichkeit
zu verbessern. Die Ergebnisse sprechen für sich: Die Bruins haben zum ersten
Mal seit 2002 die Eastern Conference für sich entschieden und Thomas führt die NHL-Statistiken
bei Gegentorschnitt und Fangquote an - Werte, die ihn zum Favoriten für die Wahl
zum besten Torwart der Liga machen.
In Boston
hat man erkannt, was man an dem ehrgeizigen Kämpfertypen hat und ihn deshalb
bereits in der vergangenen Woche längerfristig an den Klub gebunden. Angeblich
zwanzig Millionen US-Dollar soll Thomas in den nächsten vier Jahren kassieren;
jeweils sechs Millionen in den nächsten beiden Jahren sowie fünf Millionen in der
Saison 2011/12 und drei Millionen für 2012/13. Die Bruins handelten dabei
clever, denn hätten sie bis zum Ablauf von Thomas’ derzeitigem Vertrag
gewartet, wäre einerseits vermutlich sein Preis gestiegen (Toronto und Detroit galten als
potentielle Konkurrenten), und außerdem wäre Thomas dann bereits 35 Jahre alt
gewesen; dann hätte der Klub nämlich sein vertraglich vereinbartes Gehalt über die
gesamte Laufzeit in den Büchern für den Salary Cap führen müssen, selbst wenn die Bruins Thomas im Falle eines Leistungsabfalls vor Vertragsablauf abfinden würden.
Gestern
Abend übrigens parierte der Mann mit der eigenwilligen Torwartmaske und der
Nummer „30“ auf dem Trikot (zu Ehren von Jim Craig, Torhüter des US-Wunderteams
der Olympischen Spiele von Lake Placid) beim 1:0-Heimsieg der Bruins gegen die
New York Rangers 31 Schüsse und verbuchte seinen fünften Shutout in der
laufenden Saison. Dabei konnte ihn auch eine wieder einmal unglaublich unfaire
Aktion von Rangers-Stürmer Sean Avery nicht beirren: Thomas kassierte zwar für
seine Reaktion auf Averys gespielt unabsichtlichen Stockschlag gegen seinen
Nacken wie der Provokateur eine Zweiminutenstrafe, verlor aber im weiteren
Spielverlauf nicht wie von Avery beabsichtigt die Nerven. Auch hier hat der einstmals ewige Underdog seine Kritiker
eines Besseren belehrt. (Oliver Stein)