Team Canada: Eine Frage der Ehre

Wenn ein kanadischer Eishockeyprofi die Chance erhält, das Trikot mit dem Maple Leaf überzustreifen, dann hat er eines seiner Lebensziele erreicht. Jedes Jahr ist dieses Phänomen auch am Spengler Cup Davos zu beobachten, denn im Team Canada ist das Tragen des Ahornblatts eine Frage der Ehre.
Eishockey ist für die Kanadier nicht etwa nur der
Nationalsport. Nein, es ist ein Stück Kultur und zugleich die Identifikation
mit dem eigenen Empfinden, ein Kanadier zu sein. Und das hebt den Kanadier in
Eishockeybelangen vom US-Amerikaner ab. Eine Niederlage im Eishockey ist in
Kanada sowohl eine sportliche als auch eine nationale Demütigung. Sie wird
gleichgesetzt mit der Vergewaltigung eines Kulturguts. So ist auch die
grenzenlose Euphorie zu erklären, die in Kanada nach dem Olympiasieg in Salt
Lake City herrschte. Und so ist auch erklärbar, weshalb Kanadier in Spielen
für das Team Canada sowohl körperlich wie auch mental noch einen Gang höher
schalten und oftmals über sich hinauswachsen.
Der Traum vom Nationalteam
Das jüngste Beispiel für die unbändige Anziehungskraft des
rot-weissen Trikots mit dem Ahornblatt war die Entscheidung von
ZSC-Stürmer-Star Jan Alston für das Team Canada und gegen die Schweizer
Nationalmannschaft. «Ich habe die kanadische Mentalität und denke auch
kanadisch. Und wenn man als kleiner Junge in Quebec aufwächst, gibt es zwei große
Wünsche: NHL und Nationalteam», sagt der kanadisch-schweizerische
Doppelbürger. Es sei das Größte, was man als Profi-Eishockeyspieler anstreben
könne. Und diesen Herzenswunsch wolle er sich erfüllen.
Solche Aussagen hört man immer wieder. Die Kanadier sehen es
als eine sportliche und moralische Bürgerpflicht, sich für das Eishockeyland
Kanada zu «zerreißen». Mit dem Ahornblatt auf der Brust wird kein Kanadier es
jemals wagen, nur 99 Prozent Einsatz zu geben. Völlig egal, ob es nun um den
Olympiasieg, einen WM-Erfolg oder um den Spengler Cup geht. Team Canada ist eine
offizielle Auswahl des kanadischen Verbandes. Somit ist der Motivationsschub
garantiert. Jan Alston: «Wir wissen, dass wir über gute Leistungen in den
Auswahlteams – sei es am Spengler Cup oder am Deutschland Cup – die Chance
für eine WM-Teilnahme erhalten. Diese Gelegenheit ist zu verlockend, um sie
nicht zu nutzen. Deshalb werden alle Kanadier am Spengler Cup Vollgas geben.»
Nicht zuletzt auch über das Davoser Turnier haben einige ehemalige NHL-Spieler
den Sprung zurück in die NHL geschafft, zum Beispiel Fred Brathwaite, Wayne
Primeau und Doug Lidster.
Nationalstolz als Erfolgsbasis
In der Kanadischen Kabine sind auch sämtliche Differenzen
zwischen Franco- und Anglokanadiern vergessen. Das gemeinsame Ziel und die
Passion verbindet. Sébastien Bordeleau, Topskorer beim SC Bern und im November
für Team Canada gegen die Schweiz im Einsatz: «Ich weiß nicht, wie oft man im
beruflichen Leben eine Chance erhält, sich einen Traum zu erfüllen. Ich weiß
nur, dass man besonders stolz auf sich sein kann, für ein Volk zu spielen,
welches jenen Sport über alles liebt, den du als Beruf ausübst», sagt
Bordeleau. Deshalb sei es nichts anderes als eine Frage der Ehre, für einen
Sieg alles zu geben. Und Christian Dubé, heute ebenfalls beim SC Bern und vor
einem Jahr in Diensten des Teams Canada am Spengler Cup, kennt es nicht anders:
«Wir sind mit diesem aufgewachsen. Alles für den Sieg
zu geben, ist in unserem Selbstverständnis verankert.»
Zu allen Erklärungen kommt noch der in den vergangenen
Jahren arg gebeutelte kanadische Nationalstolz, der erst mit dem Olympiasieg in
Salt Lake City wieder Auftrieb erhielt. Kein Wunder, hatte man doch mit Ausnahme
des WM-Titels, der in Übersee aber keine sonderlich grosse Bedeutung geniesst,
eher Pleiten auf sportlicher und wirtschaftlicher Ebene kassiert: Niederlage im
Penaltyschiessen bei Olympia 1994 in Lillehammer, die Halbfinalniederlage
(erneut im Penaltyschiessen) 1998 in Nagano, 1992 in Albertville ebenfalls eine
Niederlage im Final gegen die damalige Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)
und die tief in die ahornbeblätterte Volksseele vorgestoßene Niederlage im
Final des World Cups gegen den Erzrivalen USA. In Kanada gilt eine Niederlage
einer Hockey-Auswahl als gleich peinlich, wie in den USA die Niederlage einer
amerikanischen Baseball-Auswahl gegen einen ausländischen Herausforderer.
Um die Bedeutung eines Einsatzes für Kanada auf höchstem
Niveau zu unterstreichen, sei folgende Aussage des ehemals in Edmonton unter
Vertrag stehenden US-Verteidigers Tom Poti vor dem Olympia-Finalspiel in Salt
Lake City zitiert: «Wenn wir dieses Spiel gewinnen, werden unsere kanadischen
Freunde nie mehr mit stolzem Haupt in die NHL-Eisarenen einfahren können.
Unglaublich, unter welchem Druck sie spielen müssen. Ich möchte nicht in ihrer
Haut stecken, denn für sie ist der Sieg Pflicht.» Heute wissen wir: Kanada
hielt dem Druck stand und wurde Olympiasieger – es war die richtige Antwort
auf die Frage der Ehre.